Die Prototypen
"Handgebaut ... und absichtlich teuer". Das ist der Titel eines englischen Verkaufsprospekts aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Darin liest man weiter: "Der Alfa Romeo Giulia 1600 SS - für den Mann der Alles hat, hier ist das Auto, das ihm Gesellschaft leisten kann... .Der Preis ist GBP 2394.1.3 mit Steuern. Teuer ? Natürlich ! Würden Sie etwas Anderes von einem handgebauten Alfa erwarten ?" . Die Giulia SS ein Luxuscoupe ?! Na ja mehr oder weniger, aber das war nicht die ursprüngliche Idee als Bertone diesen Wagen in den fünziger Jahren konzipierte. Zu dieser Zeit feierte Alfa Romeo mit der kleinen Giulietta einen überraschenden Verkaufserfolg.
Die Coupeversionen - die Giulietta Sprint und noch mehr die Sprint Veloce - waren darüberhinaus auch auf der Rennstrecke überaus erfolgreich. Aber es gab starke Konkurrenz von einem ganz anderen Alfa. Für spezielle Kunden baute Zagato eine leichtere Version der Sprint Veloce - den SVZ (Sprint Veloce Zagato). Der SVZ war kein offizielles Alfamodell, aber es war erheblich schneller und auf der Rennstrecke erfolgreicher. Also musste eine (offizielle) Antwort von Alfa und Bertone gefunden werden.
Zu dieser Zeit experimentierte Bertone und sein Chefdesigner Franco Scaglione - er war der Chef des Designstudios von 1951 bis 1959 - mit Aerodynamik im Fahrzeugbau. Höhepunkt dieser Arbeit waren die sensationelle Studien BAT 5, BAT 7 und BAT 9 (BAT = Berlinetta Aerodinamica Tecnica).
Aufbauend auf dem Chassis des 1900 Sprint sollten sie die Möglichkeiten der Stromlinienform und anderen aerodynamischen Mitteln erforschen ... und dienten gleichzeitig als Blickfang bei diversen Automobilsalons.
Für das neu zu schaffende Alfa-Coupe verwendete Scaglione die Erfahrungen, die bei den BATs gesammelt wurde, und entwarf ein Coupe unter Verwendung der um 130mm verkürzten Giulietta Sprint Platform.
Dieser Prototyp wurde intern Sprint Spinta genannt. Die tropfenförmige Form erinnerte an den BAT9, speziell im Bereich des Daches und von oben. Vorne fehlte das traditionelle Alfa-Herz, der gitterförmige Kühlergrill erinnerte eher an Ferrari. Die Stoßstangen fehlten ebenfalls. Die seitlichen Blinker waren zwischen Radausschnitt und Scheinwerfern platziert. Der Squalo (ital. für Hai - so wurde er auch genannt) war gekennzeichnet durch grosse vordere und hintere Überhänge und war 110mm niedriger als die Giulietta Sprint. Das fliessende Heck war scharf "abgeschnitten" - ein sogenanntes Kamm-Heck (nach den Theorien des Professors Wunibald Kamm). Dieses Stylingmerkmal wurde eigentlich erst später in den sechziger Jahren richtig populär. Am Heck waren einzelne, kleine Heckleuchten und die Aufschrift Giulietta Speciale zu finden. Zwischen hinteren Radausschnitt und Heck waren kleine, verchromte "Stoßstangen". Die Scheibenwischer waren nicht parallel sondern gegenläufig angeordnet. Im Inneren fehlte der Rückspiegel.
Die Karosserie wurde aus Aluminium , die Heckscheibe und die hinteren, seitlichen Fenster aus Plexiglas gefertigt. Umfangreiche Tests wurden durchgeführt um die Form des Fahrzeugs zu verbessern. Vorerst wurden Modelle im Windkanal von Moto Guzzi getestet; später verlagerten sich die Test auf die Autobahn Mailand-Turin. Wollfäden wurden an der Karrosserie befestigt um die Luftverwirbelungen bei Fahrt zu testen - ein Cw-Wert von 0.28 wurde festgestellt.
Der Sprint Veloce-Motor wurde aus der Serienproduktion genommen, aber durch Produktionstoleranzen hatte er 10 Prozent mehr Leistung. Weiters wurde ein Fünfganggetriebe eingebaut - eine Sensation zu dieser Zeit !
Dieser Prototyp wurde im im Oktober/November 1957 in Turin als Sprint Speciale präsentiert.
Ein zweiter Prototyp wurde für den Genfer Autosalon im März 1958 vorbereitet - vermutlich wurde dazu der Turiner Prototyp als Basis verwendet. Es gab einige Modifikationen um das Fahrzeug alltagstauglicher zu machen: die vorderen und hinteren Überhänge wurden reduziert (vorne um 50 mm), ebenfalls die Neigung der Schnauze und des Hecks. Die Gesamthöhe wurde um 20 mm angehoben.
Das war aber noch nicht die letzte Stufe in der Evolution. Ein dritter Prototyp tauchte wenige Monate danach beim Autosalon von Turin auf. Dieser kam der endgültigen Form schon sehr nahe. Die Überhänge wurden wieder reduziert. Am Heck gab es nun zwei runde Leuchten, die horizontal positioniert und von einem Rückstrahler getrennt waren. Im Frontbereich wanderten nun die seitliche Blinker unter die Scheinwerfer. Der grösste Unterschied war wohl, dass das Alfa-Herz wieder in seiner gewohnten Position auftauchte.
Eine weitere Änderung war ein kleines Plexiglasschild vor der Windschutzscheibe. In der Literatur gibt es zwei Theorien: ein Mückenabweiser oder eine aerodynamische Hilfe für die Scheibenwischer, sodass sie auch bei höheren Geschwindigkeiten an der Windschutzscheibe fest aufliegen. Aus eigener Erfahrung denke ich wohl es ist das erstere: nach längeren Fahrten auf der Autobahn ist das Plexiglas voller Insekten, während auf der Scheibe fast keine sind. Eine weitere Änderung waren die nun "parallelen" Scheibenwischer.
Giulietta SS - Die 750 SS "Low Noses"
Die offizielle Präsentation für die Presse fand am 24. Juni 1959 in Monza statt. Ungefähr 20 Fahrzeuge standen zum Test bereit. Die Wahl des Ortes für diese Präsentation lässt vermuten, dass Alfa noch immer an Renneinsätze für dieses neue Coupe dachte.
Änderungen seit dem letzten Prototyp beinhalteten fünf Schlitze links und rechts auf der Motorhaube um den Überdruck im Motorraum zu reduzieren. Die grösseren Heckleuchten waren nun vertikal angeordnet - der Rückstrahler war seitlich daneben. Der Innenraum war auch nicht mehr so spartanisch. Ein neues von Nardi entworfenes Lenkrad, sowie ein Rückspiegel waren die wesentlichen Neuerungen. Insgesamt gibt es Hinweise, dass kleinere Änderungen während der gesamten ersten Produktionsphase stattfanden.
Die ersten Produktionsfahrzeuge wurden wegen ihrer Form "Low-Nose" SS genannt. Obwohl die meisten Teile (ausser dem Motor) schon aus aus der Serie 101 stammten, stand auf dem Identifikationsschild 750SS. Die Seriennummern waren AR10120 0001 bis AR 10120 0101. Diese 101 Fahrzeuge - 100 war der Minimum für die Homologierung in der FIA GT-Klasse - wurden weitgehend im Jahr 1959 produziert, fünf erst im Jahr 1960 (nein, nicht die letzten Seriennummern, sondern die Nummern 00002, 00004, 00005, 00007, 00008). Sechzig SSs waren rot lackiert (Rosso Alfa), vierzig weiss (Bianco Gardenia) und einer grau (Grigio Charissimo).
Vier dieser Fahrzeuge wurden offiziell in den Produktionsstatistiken alleggerita genannt (Seriennr.: 00004, 00005, 00007, 00009). Vielleicht waren diese die einzigen Fahrzeuge, die vollständig aus Aluminium gefertigt wurden - der Rest hatte nur Türen, Motor- und Kofferraumdeckel aus Aluminium
Giulietta SS - Die "Zweite Serie"
Während der Renneinsätze des ersten Jahres wurde schon klar, dass die SS zu schwer war um einen seriösen Konkurrenten für die Zagato SVZs darzustellen. Zum Vergleich das Gewichts-/Leistungsverhältnis: 8,3 kg/PS für den Zagato, 8,6 kg/PS für die SS. Einmal mehr betrat Zagato die Szene. Diesmal mit der offiziellen Unterstützung von Alfa Romeo baute er eine Rennversion auf der SS-Plattform - den SZ. Dieser entsprach eher der ursprünglichen Intention von Alfa und belebte die alte Beziehung zwischen den Firmen. Schlussendlich führte er zu einer Serie von Renncoupes (SZ2, TZ, TZ2). Das Gewichts-/Leistungsverhältnis für den SZ war übrigens 7,7 kg/PS.
Was sollte Alfa nun mit der SS tun ? Man entschloss sich das Fahrzeug als luxiuröses, sportliches Coupe zu positionieren. Somit verschwanden die Aluminiumtüren (Motorhaube und Kofferraumdeckeel blieben) und die Plexiglasfenster - sie wurden aus konventionellen Materialen gefertigt. Die Vorderfront inklusive der Kotflügellinie wurde wiederum überarbeitet: Sie wurde mitsamt den Scheinwerfern um 70 mm erhöht um den US-Vorschriften zu genügen. Stoßstangen wurden vorne und hinten hinzugefügt. Der Kofferraumdeckel reichte nun bis an die Abrißkante des Hecks. Ebenso der Innenraum wurde geändert und komfortabler gestaltet. Dazu trug auch eine Geräuschdämmung bei, die allerdings nur als minimal zu bezeichnen ist. Diese neue Version wurde am Genfer Autosalon 1960 präsentiert.
Mechanisch wurde der Motor von der 750 Spezifikation auf die 101 Serie umgestellt. Dies bedeutete Detailänderungen am Motor sowie die Verwendung anderer Vergaser (Weber DCOE2 anstatt DCO3). Am Typenschild war nun anstatt 750SS die neue Bezeichnung101.20 zu lesen.
Diese Version war nun die endgültige und wurde bis zum Produktionsende im Jahr 1966 nicht mehr wesentlich verändert.
Giulia SS
Die Giulia SS wurde im März 1963 beim Genfer Autosalon vorgestellt. Sie war mit dem 1600ccm Motor ausgestattet, der hier 112 PS leistete. Dieser fand später auch in der TI Super, dem Spider Veloce und dem "Standard"-TZ Verwendung. Die ersten 200 Wagen wurden mit vorderer Dreischuhtrommelbremse ausgestattet - danach wurden Scheibenbremsen verwendet. Mit diesem Fahrzeug war es möglich 200 km/h zu erreichen. Road & Track testete den Wagen im Mai 1966 and fand: "Das zusätzliche Drehmoment der 1570ccm-Maschine ist sofort für alle diejenige zu merken, die auch die 1290ccm Version gefahren sind. ... Die Lebhaftigkeit und Flexibilität des Motors steuert unzweifelhaft zum Vergnügen des Fahrers bei."
Von aussen konnte die Giulia von der Giulietta durch andere Blinker und Schriftzüge unterschieden werden. Zuerst lauteten diese Giulia SS und später1600 SS.
Die Innenausstattung wurde ebenfalls bequemer: die Instrumente im Armaturenbrett waren anders angeordnet und der untere Teil des Armaturenbretts wurden im selben Material wie die Sitze überzogen. Auf der Beifahrerseite war ein grosser "Angstgriff" montiert (der auch dringend benötigt wird, da die Sitze nur wenig Halt bieten). Ein Aschenbecher wurde hinter dem Schalthebel auf dem Getriebetunnel befestigt. Der Platz hinter den Sitzen schaute nun wie eine Bank für Passagiere aus, konnte aber nur für Gepäck verwendet werden - im Kofferraum war ja sowieso kein Platz. Das einzige "Ding" was wirklich nicht in den Innenraum passte, war der gelbe Vorratsbehälter für die Scheibenwischer, der sich neben dem Kupplungspedal befand.
Die Giulia SS wurde bis 1966 produziert - zu dieser Zeit war sie der letzte "Überlebende" der 101er Serie.
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